wenn das Mann-sein zur Qual wird (Teil 1)
Zur Emanzipation der Männer.

 
Was ist typisch männlich? Gibt es das überhaupt? Sind Männer grundsätzlich aggressiver, rücksichtsloser und selbstbewusster als jede Frau? Hat jeder Mann eine geringere soziale und kommunikative Kompetenz als Frauen? Und sind diese immer intelligenter und die besseren Autofahrer?

Eigentlich kann jeder wissen, dass solche Unterschiede individuell, graduell und nicht pauschal geschlechtsspezifisch sind. Auch wenn sie ständig als Pauschalurteile durch die Köpfe und Medien geistern.
Typisch männlich bedeutet nicht, dass jeder Mann genau diese oder jene Eigenschaften besitzt. Aber Männer scheinen mehr Probleme als Frauen zu haben, mit dem Leben zurechtzukommen. Dies zeigt z.B. der Männerüberschuss bei Selbstmorden (Männer begehen dreimal häufiger Selbstmord als Frauen), stationärer Psychotherapie und Suchterkrankungen.


Mannsein ist offensichtlich nicht immer so einfach!

Die letzten dreißig Jahre haben zwar langsam, aber stetig eine Veränderung in der Vorstellung über die Rolle der Frau in Familie und Beruf gebracht. Für Männer hat sich hier wenig verändert.

Das Bild des idealen Mannes: stark, erfolgreich, die wirtschaftliche Verantwortung für die Familie tragend, körperlich leistungsfähig, sexuell aktiv und mental stabil, der Fels in der Brandung. Es hat sich seit hundert Jahren nicht gewandelt.
Man braucht nur einmal die Beschreibungen der Wunschpartner in Bekanntschaftsanzeigen und den Flirt-Communities im Internet zu studieren. Sie zeigen es deutlich. Aber wir begegnen diesem absurden Männerbild auch so auf Schritt und Tritt.
Ein Mann, der sich über Mobbing am Arbeitsplatz beklagt, erzeugt (bei Männern und Frauen) noch immer zumeist das Gefühl von "Schlappschwanz/Weichei", obwohl Mobbing für Männer genauso tragisch ist wie für Frauen.

Wie tief dieser Anspruch an den "starken Mann" verwurzelt ist, zeigt auch, dass wir es immer noch als selbstverständlich ansehen, dass gesundheitlich besonders gefährdende Arbeiten (Bergwerke, Müllverarbeitung, Energiewirtschaft etc.) praktisch nur von Männern ausgeübt werden.
Entlassung, Arbeitslosigkeit und sozialer Absturz wird zwar bei Frauen als bemitleidenswert angesehen, bei Männern jedoch viel mehr als Ausdruck ihres persönlichen Versagens.


Wo viel Anspruch ist, ist viel Versagensangst!

Aus dieser Perspektive kann das Verhalten des "Macho" als Kompensation der Versagensängste vor diesen gesellschaftlichen Ansprüchen gesehen werden.
Wird dagegen einem Mann die Unerfüllbarkeit dieser Rolle zu deutlich, sind Überkompensationen in Form von Gewalt und/oder extremer Risikobereitschaft die Folge. Auf jeden Fall führt dieses "Versagen" zu Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen und einem deutlichen Sinn- und Identitätsverlust. Die graduellen Unterschiede ergeben sich lediglich aus der unterschiedlichen Stärke des empfundenen Versagens.


Warum emanzipieren die Männer sich nicht?

Wenn Männer unter diesen Ansprüchen leiden, warum kämpfen sie dann nicht darum diese absurde Rolle loszuwerden?
Die Frauen haben es in unserer Gesellschaft zu einem guten Teil geschafft und wären doch ein gutes Vorbild.
Aber den verinnerlichten Anspruch stark sein zu müssen überwinden, seine "Schwäche" zu akzeptieren und ihr ein Existenzrecht zu erkämpfen, ist schwer. Schwerer als nur deutlich zu machen, dass man nicht so schwach ist wie die Umgebung es gerne hätte.

Darüber hinaus gehört zur geforderten Männlichkeit ja auch eine Spur Narzissmus. Der Erfolgswille, das Bedürfnis nach Anerkennung, Macht und Einfluss, die Bereitschaft, für materiellen Erfolg große Opfer zu bringen, die Erwartung, für Erfolg auch geliebt zu werden, all das sind typische narzisstische Merkmale.
Ein anerkannt "echter Mann" ist eben auch ein Narzisst. Die beliebten Idole aus Sport und Unterhaltung zeigen das deutlich.
Und damit kommen wir an den Grund der ganzen Problematik, denn jede Spur von Narzissmus macht das akzeptieren eigener Schwächen schwerer.


Zum Narzisst wird man erzogen!

Diese narzisstische Tendenz ist keine genetische Veranlagung der Männer, sondern eine Folge ihrer Sozialisierung.
Keine Bindung in der Familie ist so eng, so symbiotisch wie die zwischen Mutter und Sohn. Der (im Allgemeinen immer noch) weniger mit der Erziehung der Kinder beschäftigte Vater und dessen eigenes symbiotisches Verhältnis zu seiner Frau verstärkt diese Mutter-Sohn-Beziehung durch die Konkurrenzsituation. Dazu sind Mütter in der Regel stolz auf einen "liebenden" Sohn und seine emotionale Abhängigkeit und fördern diese unbewusst.

Das Umfeld von Töchtern ist anders. Die Beziehung zur Mutter ist mehr durch Konkurrenz oder manchmal gar Missgunst geprägt. Die zum Vater erreicht nur sehr selten eine Nähe, die zur Bildung eines symbiotischen Verhältnisses ausreichen würde. Dies führt bei Frauen normalerweise zu einer früheren Reife und mehr emotionaler Unabhängigkeit.
Die oft vollständige emotionale Abhängigkeit von der Mutter und die daraus resultierende Konkurrenz zum Vater bleiben aber für das männliche Kind prägend.
Da die Verlustangst ein typisches Merkmal symbiotischer Beziehungen ist, wird der Junge alles tun und verinnerlichen, was diesem Verlust entgegenwirken könnte und (narzisstische) Strategien zum Erhalt der Mutterliebe entwickeln.
Bei einer wenig liebevollen Mutter ist die Abhängigkeit (und Verzweiflung) noch stärker, denn hier muss die Anerkennung und Beachtung in einem (oft hoffnungslosen) Kampf errungen werden.
Alle so genannten "typisch männlichen" Verhaltensmuster lassen sich im Wesentlichen auf diese Abhängigkeit zurückführen.


Die Folgen für die Partnerschaft

Die Auswirkungen dieser symbiotischen Mutterbindung in den späteren Beziehungen des Mannes sind gravierend.
Diese Bindung wird (gemäß dem "inneren Kind") fast immer auf die Partnerin übertragen. Nichts ist für das innere Kind dann schlimmer als der "Verrat" durch diese Mutter. Er wird mit der gleichen Dramatik erfahren, wie ein Kind Lieblosigkeit und Nichtbeachtung durch die eigene Mutter empfindet.
Die Tatsache, dass Männer Trennungen schlechter verkraften, öfter deswegen körperliche Symptome entwickeln, und das überstürzte Eingehen einer neuen Bindung sind die Folge davon.

Man könnte sagen, die gesamte Emanzipationsbewegung der Frauen war (und ist) ein Kampf gegen den Symbioseanspruch des Mannes und seine Taktiken sich der Aufmerksamkeit und Anerkennung durch die Frau zu vergewissern.

So bleibt kaum eine Beziehung frei von dieser Problematik. Das Misstrauen, das der Mann einer lieblosen Mutter gegenüber hatte, wird ihn eifersüchtig und kontrollwütig machen. Den Freiraum, den ihm eine verwöhnende, unterwürfige Mutter bot, wird er auch in seiner Beziehung durchsetzen wollen.
Hauptsächlich aber wird er, je nach narzisstischer Prägung, das Gefühl haben, sich die Zuneigung verdienen zu müssen, indem er seine männliche Rolle so gut wie möglich ausfüllt.
Hier beginnt oft ein gefährlicher Kreislauf: Hat die Partnerin nicht ebenso einen Wunsch nach Symbiose, sondern eine natürliche emotionale Unabhängigkeit, so versucht der Mann den scheinbar drohenden Verlust durch mehr Männlichkeit zu verhindern. Damit zwingt er seine Partnerin auf Distanz und nun ist wiederum mehr Männlichkeit angesagt. Und so weiter. Bis zur gefährlich werdenden Karikatur dieser "Männlichkeit".


Die Folgen in Ausbildung und Beruf

Nachdem der autoritär repressive Vater glücklicherweise seltener wird, rückt die bewundernd verwöhnende Mutter in den Vordergrund der Erziehung.
Wurde der Junge früher zu schulischen Leistungen schlicht gezwungen und waren sie für ihn ein Mittel Beachtung und Bestätigung zu bekommen, so macht nun die unbedingte Bewunderung durch die Mutter die Anstrengung überflüssig. Dies verstärkt die ohnehin starke Mutterbindung.
Mama ist die Einzige, die ihn versteht, zu ihm hält und seine Großartigkeit anerkennt.
So sinken die schulischen Leistungen immer weiter unter die der Mädchen.

Dass es eine Berufswahl nach echter Neigung so gut wie nicht gibt, liegt zum Teil sicher auch an unserem Schulsystem, das Neigungen nicht fördern kann. Bestimmend für den gewählten Beruf sind jedoch hauptsächlich die Konkurrenz zum Vater und die Bewunderung durch die Mutter. Sie bleiben auch Motor für alle Karrierezwänge.

Die so genannte Midlife-Crisis tritt oft bei Männern auf, wenn der Vater in Rente geht, dessen Leistungsfähigkeit schwindet oder wenn er stirbt. Die antreibende Konkurrenzsituation mit dem Vater ist nun plötzlich verschwunden und der deswegen gewählte Beruf sowie die Karriere verlieren ihren Sinn. Jetzt ist der Zeitpunkt für berufliche Neuorientierungen, eine Neuordnung der Werte gekommen.
Eine für den Mann und seine Umwelt schwere und belastende Phase, die aber auch die Möglichkeit, authentischer zu werden, beinhaltet.


Auf der Suche nach Hilfe

Alle Verhaltensweisen, die nicht aus einem selbst bestimmten Ich, sondern aus inneren Konflikten resultieren, sind ständiger Quell seelischen Leids.
So erkennen immer mehr Männer die Ursachen dieses Leids bei sich selbst. Allerdings hat unsere Gesellschaft noch kaum einen Schritt gemacht, den Männern bei dieser Emanzipation zu helfen. Dazu eine Recherche bei Google (Ergebnisse von 2007, der heutige Suchalgorithmus lässt so einen Vergleich nicht mehr zu):

34.900 Treffer bei "Hilfe für Frauen"
402 Treffer bei "Hilfe für Männer"
29.900 Treffer bei "Beratungsstelle für Frauen"
245 Treffer bei "Beratungsstelle für Männer"

Dieses Ergebnis ist erschütternd und traurig. Es dokumentiert den gesellschaftlichen Konsens über Männlichkeit und über erwünschte männliche Stärke.

Ein klassisches Argument ist, dass Männer keine Hilfe wollen bzw. annehmen können.
Natürlich erschwert die besagte Spur Narzissmus und ein inneres "Wenn ich nicht stark bin, dann liebt mich Mutti nicht" die Bereitschaft sich Hilfe zu suchen.
Aber als in den 70er Jahren die ersten Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser entstanden, waren es auch nur wenige Frauen, die den Mut und das Bewusstsein hatten, diese Angebote wahrzunehmen. Erst mit dem steigenden Angebot und der entsprechenden Publicity haben sich diese Institutionen etablieren können.
Darüber hinaus hat sich in den letzten 20 Jahren ein absolutes schiefes Bild über die Verteilung von Problemen bei den Geschlechtern entwickelt.

Nicht nur das obige Google-Ergebnis, sondern auch alle Medien sprechen eine deutliche, wenn auch völlig verzerrende Sprache.
Als vor wenigen Jahren eine englische Studie über häusliche Gewalt gegen Männer veröffentlicht wurde, die durchaus Unerwartetes zu Tage förderte, war dies kaum mehr als ein paar, eher polemische Artikel wert. Mobbing und Stalking zum Beispiel scheinen rein weibliche Probleme zu sein (was sie ganz gewiss nicht sind). Alleinerziehende Väter (so man es ihnen überhaupt erlaubt) haben noch lange nicht den gleichen Status wie alleinerziehende Mütter.

Die Haltung: "Nur Frauen haben Probleme und Männer nicht (denn die machen sie ja)", wird so gerne publiziert, wie sie einseitig und absurd ist.

Viele Männer kommen sich unter diesen Umständen, durchaus berechtigt, zurückgesetzt und nicht ernst genommen vor. Damit werden sie in der Ansicht bestärkt dass Mann eben keine Probleme haben darf oder aber alleine damit fertig werden muss.


Männerprobleme in Beratung und Therapie

Kommt ein Mann, dessen Leiden diesem Problemkreis entspringen, zum Berater oder Therapeuten, ist weniger die angewendete Methode von Bedeutung. Alle Therapierichtungen sind eigentlich in der Lage hier zu helfen. Erste Voraussetzung dazu ist aber die persönliche Einstellung des Therapeuten bzw. der Therapeutin.

Solange Therapeut und Therapeutin ihr eigenes Männerbild nicht von den klassischen "Selbstverständlichkeiten" befreit haben, werden sie unbewusst auch an den Patienten den Anspruch haben, wie ein "richtiger" Mann zu empfinden und zu handeln.
Wichtig ist, dass der Patient seine "kindlichen" Gefühle zu erkennen lernt. Sie nicht nur intellektuell zu verstehen, sondern als Gefühle wahrzunehmen und zu respektieren. Daraus erst entsteht die Fähigkeit, sich in bestimmten Lebenssituationen nicht mehr von diesen Gefühlen leiten zu lassen.
Wer sich tiefer mit diesem Thema beschäftigen möchte, dem empfehle ich das Buch über das "innere Kind" von Hugh Missildine.


Zum Abschluss etwas, was viele nicht gerne hören

Wenn ich hier von gesellschaftlichen Bedingungen oder Zwängen geschrieben habe, so meine ich damit nicht die einer anonyme Institution. Diese Gesellschaft bilden wir alle, Frauen und Männer, mit unseren alten und neuen Vorurteilen und Pauschalisierungen.
Es sind seltener die alten unemanzipierten Mütterchen, die einen "starken" Mann als Ideal sehen und sich über einen "schwachen" Mann lustig machen. Eher neigen "neue starke" Frauen dazu, in diese eigentlich männertypischen Fallen zu laufen.

Auch ist es ein Mythos und ein Zweckglaube, dass es für die Entwicklung eines Kindes unerheblich ist, ob es von beiden oder nur einem Elternteil aufgezogen wird. Denn je geringer die Anzahl an direkten Bezugspersonen für ein Kind ist, umso stärker wird die symbiotische Bindung, mit allen oben beschriebenen Folgen.

So wird es noch viele Generationen dauern, bis Gleichberechtigung als selbstverständliches Recht auf Stärken und Schwächen angesehen wird. Von allen Männern und Frauen, also der Gesellschaft. Bis Erziehung auch nicht mehr zur Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse der Erziehenden herhalten muss.

Bis dahin sollten gerade die in psychologischer Beratung und Therapie Arbeitenden ihre alten und neuen Vorurteile zu den Geschlechtern abbauen und gleichberechtigte Chancen bei der Hilfestellung anstreben.


Michael Hoffmann, Heilpraktiker für Psychotherapie